„Welche Macht hat Religion?“ und wie können Christentum und Islam mit dem ambivalenten Verhältnis von Religion und Macht umgehen? Darüber hat das Theologische Forum Christentum – Islam diskutiert.
Frau Prof. Anja Middelbeck-Varwick (Flensburg) eröffnete die Debatten des Theologischen Forums Christentum – Islam 2018 mit der Frage: „Hat Religion überhaupt noch Macht? Und wenn ja, worüber – und worin besteht sie?“ Haben in Europa nicht Christentum und Islam in ihren klassischen Religionsformen und -gemeinschaften stark an Einfluss verloren? An diese Beobachtung anknüpfend fragte Prof. Amir Dziri (Fribourg), ob es für Religionen überhaupt erstrebenswert sei, Macht zu besitzen und auszuüben. Gehe es nicht vielmehr darum, die irdische, moralische und soziale Macht immer wieder zu relativieren? Umso kritischer sei aber zu prüfen, wo heute im Namen der Religionen Macht angeeignet und ausgeübt werde. Natürlich finde auch religiöser Diskurs nie in einem hierarchiefreien Raum statt. Religionen seien nicht nur Objekte der Macht, beispielsweise gegenüber dem Staat, sondern träten selbst als Machtsubjekte auf.
Religion und Macht stehen also – so Middelbeck-Varwick – in einem ambivalenten Verhältnis zueinander: neben der sozialen Kontrolle und der Festlegung bestimmter Rollenbilder könnten Menschen durch Religion auch ermächtigt werden. Somit sei deutlich, dass Macht nicht per se negativ, etwa moralisch als „böse“, beurteilt werden könne. Vielmehr müsse es darum gehen, Kriterien für die Beurteilung von Machtmissbrauch auszumachen, aber auch für eine Ermächtigung von Entmächtigten. Dazu sei das Gespräch mit den Nachbarwissenschaften ebenso wichtig wie die kritische Sichtung der religiösen Tradition.
Komplexe Interessenskoalitionen
Aus politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive näherte sich Prof. Antonius Liedhegener (Luzern) den aufgeworfenen Fragen. Er bot einen Überblick zum „state of the art“ der unterschiedlichen Konzepte und Analysen. Am Beispiel der Abstimmung des Deutschen Bundestages zum assistierten Suizid im November 2015 fragte er nach Bedingungen erfolgreicher Beeinflussung politischer Prozesse durch religiöse Organisationen. Zwar wurde der von den Kirchen unterstütze Gesetzesentwurf angenommen. In den komplexen Interessenkoalitionen seien aber immer nur Faktorenbündel angebbar. Liedhegener warnte daher vor zu eindeutigen Antworten auf die Frage nach der Macht von Religion. Beispielsweise werde auch in Europa ein Trend stärker, der die Religionsfreiheit einschränkt. Andererseits müssten die Religionen die Anerkennung der Säkularität des Rechts immer wieder neu lernen.
Frau Prof. Margareta Gruber (Vallendar) bezeichnete Kunst als Spiegel der Machtverhältnisse. In der Kunst könne sich die Macht der Sieger ausdrücken, sie könne aber ebenso eine Ressource des Widerstands gegen Unterdrückung sein. Oftmals werde Religion und Glaube in Filmen als unterdrückend und einschränkend dargestellt. Dagegen suchte sie nach filmischen Darstellungen einer ermächtigenden Rolle des Glaubens in entmächtigenden Strukturen. Beispiele gaben die Filme „Silence“, „Am Sonntag bist Du tot“ und „Ida“. So verfolgt der Film „Silence“ die unterschiedlichen Wege von drei Jesuiten während einer großflächigen Christenverfolgung in Japan 1638. Trotz der sehr wirkmächtigen und eindrücklichen, teilweise auch deutlich gewalthaltigen Bilder liege die eigentliche Gewalt des Filmes, so Prof. Gruber, in den Dialogen. Wo zeigt sich in dem Film die ermächtigende Rolle? Vor allem in Randfiguren wie den japanischen christlichen Bauern. Und man könne fragen, ob auch aus dem Apostaten Ferreira letztlich ein Märtyrer wird: Verrät er Gott für Gott, indem er die christlichen Bauern durch seine Apostasie rettet? Insgesamt sei zu beobachten, dass in den Filmen keine Psychologisierung stattfinde. Das Innere werde nicht ausgedrückt, sondern als Inneres belassen, es verbleibe „Schweigen und Geheimnis“ und sei einem abschließendes Urteil letztlich entzogen.
Macht kann legitim sein, Gewalt niemals
Beim multireligiösen Gebet am Samstagmorgen zeigte sich in schöner Weise, wie sehr beide Religionen Gemeinsamkeiten in ihrer spirituellen Tradition haben.
Prof. Reinhard Schulze (Bern) erweiterte das Spektrum herangezogener Konzepte von Macht: Neben Max Weber und Michel Foucault ging er auf Hannah Arendt näher ein. Sie betont den Gegensatz zwischen Macht und Gewalt: Macht bedarf der Legitimität, Gewalt hingegen könne niemals legitim sein. Dadurch schaffe Arendt es, Freiheit und Macht zu verknüpfen, aber von Gewalt und Despotie abzugrenzen. Dieses Verständnis lasse sich, so Schulze, mit der Deutung von Macht in der islamischen Tradition ins Gespräch bringen. Durch die radikale Transzendierung letzter Wahrheit werde die Machtstellung in der Welt relativiert. Dies bedeute in der Konsequenz, dass religiöses Wissen seine Macht nie auf Kosten eines anderen Wissens entfalten könne. Die Zustimmung zu einem Wissen zeichne also seine Macht aus, was diese, um wieder mit Arendt zu sprechen, von der Gewalt klar unterscheide. Schulze sah in diesen, bereits im Koran zentralen Gedanken eine Ressource für die Begründung einer liberalen islamischen Theologie.
Prof. Abdullah Takim (Wien) stellte Machtfragen und Machtkämpfe als verwoben mit Weichenstellungen der islamischen Theologie dar, aus denen schließlich die drei großen religiös-politischen Gruppierungen entstanden: Ḫāriǧīten, Šīʿa und Sunniten. Strittig waren vor allem drei theologische Zentralfragen: der Status des großen Sünders, die Zuordnung von Glauben (īmān) und Handeln (ʿamal) sowie das Verhältnis von göttlicher Vorherbestimmung (qadar) zur Handlungs- und Willensfreiheit des Menschen (al-irāda). Prof. Takim stellte eindrücklich den Zusammenhang zwischen theologischen und politischen Optionen heraus. So wurde die Allmacht Gottes im Kontext der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen von den Umayyaden auch benutzt, um die Gewalttaten als schicksalhaft zu legitimieren, was mit der Verfolgung von Theologen wie Maʿbad al-Ǧuhani (gestorben 703/704) einherging, die demgegenüber die menschliche Freiheit stark machten. Nötig sei für heutige Aushandlungen eine historisch-kritische Kontextualisierung normativer Überlieferungen. Bereits der Koran sei zu verstehen als ein lebendiger und fortlaufender Diskurs, als Quelle für eine Vielfalt von Interpretationen und Reinterpretationen, die auch gegenwärtig keineswegs gefeit sei vor politischen Instrumentalisierungen.
Macht ohne Liebe ist keine Allmacht
Prof. Klaus von Stosch (Paderborn) führte die Diskussionen in christlich-theologischer Hinsicht weiter. Von Max Webers Machbegriff ausgehend analysierte er den Allmachtsbegriff, der sowohl im Christentum als auch im Islam eine große Bedeutung hat. Bei dem Versuch, größtmögliche Macht zu denken, gelange man aber schnell in unpassende Vereinfachungen, in Paradoxien und Inkonsistenzen. Problematisch sei es, wenn Gott in der Linie sonstiger physischer Mächtigkeiten verstanden werde, gleichsam als „der größte Junge auf dem Schulhof“. Das könne auch zu einem problematischen Konkurrenzverhältnis von Mensch und Gott führen. Dagegen müssten die Macht Gottes und die Freiheit des Menschen zusammengedacht werden – sodass Gottes Macht eine frei- und raumgebende Macht ist: „Macht ohne Liebe ist keine Allmacht“. Gottes Macht ist also erst dann Allmacht, wenn sie nichts als freisetzende Liebe ist. Das sei zugleich Bedingung wie auch Kriterium für die Kirche: Sie soll in Nachfolge Jesu Zeichen dieser Macht sein und diese in der Welt bezeugen. Dazu muss sich ihre Macht ebenso als eine freisetzende erweisen. Dies bedeute vor allem, Macht als Dienst zu verstehen und sich besonders den Machtlosen zuzuwenden. Wenn die Kirche davon abgetrennt nach Macht strebe, sei dies selbstwidersprüchlich.
In vier „Thematischen Foren“ wurden unterschiedliche Themenstränge und Praxisfelder weiter vertieft.
Eine erste Sektion widmete sich dem Verhältnis der Geschlechter in religiösen Symbolsystemen. Dazu gab Dr. Miriam Leidinger (Aachen) einen Einblick in die Ursprünge christlich-feministischer und Queer-Theologie und fragte nach Optionen der Weiterentwicklung und des heutigen Umgangs damit. Dr. Nimet Seker (Frankfurt/M.) sichtete feministische Ansätze der islamischen Theologie und besonders der Koranauslegung. Sie kritisierte teilweise vorherrschende Vereinfachungen, die hinter der Komplexität der Texte zurück blieben. Bereits die unterschiedliche Adressierung von Frauen und Männern im Koran sei für eine geschlechtersensible Koranauslegung ein ambivalenter Ansatzpunkt.
Die Rollen der Geschlechter im Blick
Der Zusammenhang von bestimmten Gottesbildern und Macht wurde in einem zweiten Forum vertieft. Prof. Mouhanad Khorchide (Münster) stellte die These auf, dass es zwischen dem Gottesbild und den Machtstrukturen innerhalb einer Gesellschaft eine wechselseitige Prägung gebe, wobei er meinte, dass diese stärker von den Machtstrukturen in Richtung des Gottesbildes gehe. Prof. Christine Büchner (Hamburg) untersuchte und diskutierte die pluralen Gottesbilder der Bibel sowie mystisch-theologischer Traditionen eingehender, um die Allmacht Gottes als Form einer „alternativen Macht“ heraus zu arbeiten.
Prof. Michael Schüßler und Dr. Mahmoud Abdallah, beide aus Tübingen, diskutierten über soziale Kontrolle durch religiöse Gemeinschaften. Dabei setzte sich Schüßler mit dem Konzept christlicher „Pastoralmacht“ bei Michel Foucault auseinander und fragte, was in diesem Zusammenhang die heutige Verfügbarkeit religiöser Gehalte in einem, wie er es beschrieb, „open-source-Modus“ bedeute. Abdallah beschäftigte sich mit der Frage, in welcher Weise die muslimische Gemeinschaft (Umma) zu sozialer Kontrolle legitimiert sei oder funktionalisiert werde. In einer pluralen Gemeinschaft und angesichts der Gemeinsamkeiten in Geschichte und Menschsein könne es heute nicht mehr beispielsweise um religiös begründete Sanktionen gehen, sondern um Bestärkung selbstbestimmter Verantwortung, um eine diskursive Auseinandersetzung mit beanspruchter Deutungsmacht und um Teilhabe zum Wohle des Ganzen.
In einem vierten Forum wurden religiöse Sozialisation und Erziehung auf Strukturen von Macht hin untersucht. Dr. Susanne Klinger (Osnabrück) stellte aktuelle Forschungen zu familiärer christlicher Glaubenserziehung dar und fragte in einem zweiten Schritt nach den Zuordnungen verschiedener Erziehungsstile und religiöser Ansprüche. Dr. Ayşe Uygun-Altunbaş fragte auf der Grundlage empirischer Forschungen und ihrer eigenen qualitativen Studie nach den Rahmenbedingungen heutiger muslimisch-religiöser Sozialisation und der Bedeutung unterschiedlicher Instanzen wie Familie, Mosche oder Schule.
Theologie und Gesellschaft kommen ins Gespräch
Die Dynamik der christlich-islamischen Beziehungen zeigte sich auch beim Offenen Forum am Samstagnachmittag, bei dem aktuelle Projekte und Forschungsvorhaben vorgestellt werden konnten. Immer stärker etablieren sich gerade auch auf muslimischer Seite Strukturen, in denen der Austausch und die Verzahnung auf verschiedenen Ebenen, zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft, befördert wird. So stellte Prof. Bekim Agai die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft in Frankfurt vor, die sich zum Ziel gesetzt hat, gesellschaftliche und wissenschaftliche Akteure miteinander ins Gespräch zu bringen. Ebenso wurde sichtbar, dass es im Bereich des interreligiösen Austauschs zunehmend praxisbezogene Studiengänge und Austauschangebote gibt, wie beispielsweise an der Donau-Universität Krems in Österreich.
Am Samstagabend wurden durch die George-Anawati-Stiftung drei Nachwuchswissenschaftler ausgezeichnet für ihre Essays zu unterschiedlichen Feldern des christlich-islamischen Dialogs. Die Texte waren hervor gegangen aus einer Studienwoche zu „Christlich-islamischen Beziehungen im europäischen Kontext“, welche die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart zusammen mit der Eugen-Biser-Stiftung organisiert. Neue Impulse für den Dialog
Nachdem im ersten Teil der Tagung unterschiedliche Aspekte des Begriffs und der Wirkungen von Macht untersucht wurden und der zweite Teil Konstellationen der Macht in den Religionen und deren theologischen Verbindungen befragt hatte, wurde im Schlussteil die Deutungs- und Sprachmacht von Religionen im Gefüge gesellschaftlicher Macht diskutiert.
Dabei betonte Prof. Bekim Agai (Frankfurt/M.), dass es dem Menschen nicht möglich sei, sich zu Macht nicht zu verhalten. Dasselbe gelte für Religion, was die Frage aufwirft, in welcher Weise sie sich zur Macht verhalten sollte. Für die Muslime sei der Koran das zentrale Sprachdokument, wodurch sie ermächtigt und die vorislamischen Araber entmachtet wurden. Eine solche Zweiseitigkeit und Konkurrenz von Macht gegenüber anderen Machtansprüchen lässt sich an verschiedenen Phänomenen verdeutlichen: Die Allmacht Gottes kann Ermächtigung und zugleich Entmächtigung sein, und auch ein modernes Phänomen wie der Säkularismus könne Religionen entmächtigen, aber auch Freiräume schaffen, in denen Religionen erst Macht entfalten können. Und schließlich bedeute das Sitzen an den Tischen der Macht zwar einen Machtverlust, aber verspreche zugleich Gestaltungmacht.
Vom Machtcharakter der Sprache ausgehend, fragte anschließend Prof. Christian Polke (Göttingen) in seinem Vortrag danach, was diese Sprachmacht für die Religionen bedeute. Polke unterschied zwischen einem „tötenden“ und einem „lebendig machenden Wort“, das je nach Situation auch im Schweigen und in der einfachen Präsenz bestehen könne. Er betonte die Gefahr religiöser Rede und die Verführungskunst der Rhetorik. Ein Kriterium für den verantwortbaren Einsatz von Rhetorik könne die Frage sein, ob sie dem Angesprochenen den Atem nehme und die Differenz zwischen Menschenwort- und Gotteswort verwische – denn genau dieser Raum der Unterschiedenheit zwischen Mensch und Gott schaffe Freiheit.