„Wir sind, was wir den Anderen antun“ – unter dieses Zitat von Maurice Merlau-Ponty stellte Dr. Ulrich Lincoln seine Ausführungen zum Zusammenhang von Friedensbegriff und theologischer Anthropologie.
Der Vortrag bildete ein Gegenstück zum Vortrag von Professorin Dr. Muna Tatari zum Verhältnis von Frieden, Gewalt und theologischer Anthropologie aus islamisch-theologischer Sicht. Beide eröffneten damit die erste Sektion des Theologischen Forums Christentum – Islam 2023 zum Themenfeld „Herausforderung Frieden“.
Der Beitrag nähert sich der Frage nach dem Verhältnis von Friedensbegriff und theologischer Anthropologie vor dem Hintergrund der theologischen Frage nach dem Wesen und der Wirklichkeit menschlicher Gewalt. Die anthropologische Frage nach dem Friedensbegriff nimmt dabei ihren Ausgang von einem phänomenologischen Gewaltbegriff, der Gewalt als
Gewalterfahrung in den Horizonten von Sinn, Leiblichkeit und Diskursivität verortet.
Der anthropologische Fluchtpunkt dieser Analyse liegt im Begriff der Verletzlichkeit. Eine anthropologisch grundierte Soziologie der Gewalt erkennt in der Verletzlichkeit die Grundbedingung menschlicher Vergemeinschaftung und bestimmt diese als eine wesentlich negative Sozialität. Die Gewalterfahrung ist bestimmend für das Menschsein, sie ist aber auch kein totales Verhängnis. Der Begriff des Friedens kommt in diesem Zusammenhang in den Blick als die Frage nach den Erfahrungsräumen von Nicht-Gewalt.
Die biblische Überlieferung bringt an dieser Stelle den Umkehrruf Jesu ins Spiel. Frieden als Nicht-Gewalt wird möglich, wo Einzelne wie Gesellschaften sich auf die eigenen Gewalterfahrungen und Aggressivitätspotentiale besinnen. Darin liegt der spezifische Beitrag einer christlichen Anthropologie: Gewalt wird reflexiv. Diese Reflexivität ist die notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit des Friedens.