Studienwoche „Christlich-Islamische Beziehungen im europäischen Kontext“ vom 27.09.–02.10.2020 in Weingarten

Die Studienwoche, veranstaltet von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Eugen-Biser-Stiftung, war natürlich überschattet von der Covid-19-Pandemie, der von Organisatoren und Hauspersonal mit einem ausgezeichneten Hygienekonzept begegnet wurde. Durch Einzelzimmer, spezielle Sitzordnungen in Seminar- und Speisesälen und großzügige Desinfektion konnten sich alle Teilnehmenden während der Woche so sicher wie möglich fühlen.

Die Teilnehmenden waren erfreulich divers in ihren fachlichen und religiösen Hintergründen. Um einen größtmöglichen Synergieeffekt in den Gruppenarbeiten zu ermöglichen, wurden die Teilnehmenden gezielt so platziert, dass ein gemischtes Geschlechterverhältnis bestand und unterschiedliche Religionen und Konfessionen zusammensaßen. Zum Einstieg in das dialogorientierte Überthema wurde allen das von der Eugen-Biser-Stiftung herausgegebene Werk „Lexikon des Dialogs -Grundbegriffe in Christentum und Islam“, von dem die Teilnehmenden im Vorfeld einzelne Artikel erhalten hatten, auf Deutsch und Arabisch in gedruckter Form ausgehändigt. Bei kritischer Lektüre des Lexikons wurden die Artikel in ihrer christlichen und islamischen Darstellung verglichen. Streckenweise waren nur geringe Unterschiede vorhanden, an anderen Punkten deutliche Asymmetrien: So verwies der christliche Artikel zu „Säkularismus“ weiter zu „Aufklärung“, der islamische zu „Gottesleugnung“ – ein wichtiger Hinweis darauf, wie ein Wort unterschiedlich kontextualisiert werden kann. Auch wurde die Autorenneutralität angezweifelt, wenn die Autoren z. B. eine gesamtchristliche Deutung beanspruchten, aber streckenweise eine dezidiert katholische Sprache verwendeten.

Jun.-Prof. Dr. Edeltraud Koller führte am Montagnachmittag in das Thema „Ethik in säkularen Gesellschaften“ ein. Anhand von medialen Rezeptionen und Schlagworten wie „Moralfabrik“ konnten vor allem die christlichen Teilnehmenden die moralische Rolle der Kirchen in Deutschland in Selbstanspruch und öffentlicher Wahrnehmung reflektieren. Auch die Relevanz der Kirchen im Generellen stand zur Debatte: Benötigt eine säkulare Ethik diese überhaupt noch? Und welche Rolle sollten sie in den Herausforderungen der Zukunft, wie zum Beispiel der Entwicklung von künstlicher Intelligenz, spielen? Dr. Ertugrul Sahin erläuterte am nächsten Vormittag die Grundlagen der islamischen Ethik (abhäq), die sich als akademische systematische Reflexion im Fächerkanon der in Deutschland unterrichteten islamischen Theologie noch entwickelt. Als ethische Grundlagen liegen auf sunnitischer Seite zuvorderst der Koran vor, sowie die Sunna des Propheten Muhammad als personifizierte Verkörperung des ethisch Guten. Eine dem in Deutschland als philosophische Disziplin definierten und unterrichteten Ethikbegriff vergleichbare islamische Ethik als eigenes Fach ist zwischen Überlieferung, Rechtsnormen und Philosophie noch in der Entwicklung begriffen. Im Plenum wurde anschließend diskutiert, inwieweit sie sich überhaupt in dieser Richtung entwickeln müsste, da in dieser Aufforderung auch ein Anspruch der Deutungshoheit der christlichen Theologie mitschwinge.

Dr. Sigrid Rettenbacher gab für die mit dem Christentum nicht fachlich Vertrauten einen kurzen Einblick in die christliche Heilslehre und führte in die Religionstheologie ein. Die verschiedenen Modelle, in denen klassischerweise eine Heilsbeziehung betrachtet werden kann (Exklusivismus- Inklusivismus- Pluralismus), wurden kritisch beleuchtet und die pluralistische Perspektive von den Kursteilnehmenden überwiegend bevorzugt, also die Idee der Gleichwertigkeit aller religiösen Überzeugungen, im Gegensatz zur inklusivistischen Anerkennung anderer, die jedoch der eigenen Tradition Vorrang zuspricht. Wichtige Ansätze für die Zukunft seien in diesem Rahmen vor allem, trotzeines pluralistischen Selbstanspruches, die Frage nach Religion als politischem Machtfaktor, da mit Blick auf die Kirchengeschichte und historisch gewachsene Grenzen ein Gespräch über Religion nicht politisch unbelastet sein könne. Eine eher individuelle Frage für die Kursteilnehmenden untereinander war, was Einzelne in anderen Religionen entdecken könnten, das sie persönlich als bereichernd empfinden.

Der Dienstag wurde durch einen Filmabend abgerundet. Die sehr empfehlenswerte Culture-Clash-Komödie „Der Hodscha und die Piepenkötter“ schildert charmant überspitzt die politischen Verwicklungen eines Moscheebaus in einer deutschen Kleinstadt.

An die letzte Frage des Dienstags thematisch angelehnt wurde der Mittwoch von Dr. Raid Al-Daghistani gestaltet. Seine Forschungsschwerpunkte der Mystik, sufischen Epistemologie und islamischen Metaphysik waren für die meisten Teilnehmenden ein völliges Novum, was das besonders rege Interesse der Teilnehmenden erklären mag. Wichtig war für die von Herrn Al-Daghistani initiierte Gruppenarbeit vor allem, wie diese Ansätze einem dialogorientierten Verständnis nutzen könnten. Wenn die transzendentale, mystische Erfahrung allen Menschen zugänglich ist, sei es durch Gebet, Meditation, Yoga oder durch einen durch Musik oder Sport erreichten „flow-state“, könnte dies ein Ansatz sein, um ein pluralistisches Wehanschauungsbild zu gestalten und zu fördern, so das Fazit der Teilnehmenden.

Kontrastiert wurde diese Einheit durch Rechtswissenschaft am Donnerstagvormittag. Prof. Dr. Christian Walter erklärte grundsätzliche Fragen der Religionsfreiheit anhand von Beispielen aus dem deutschen Grundgesetz und aus Gesetzen anderer EU-Länder sowie von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Vor allem bei der Frage um das Tragen von Kopftüchern im öffentlichen Dienst herrscht Uneinigkeit innerhalb der EU-Mitgliedsländer und innerhalb DeutschIands auf föderaler Ebene. Auch schiene zum Beispiel im Bundesland Bayern eine kognitive Dissonanz zu herrschen, in der Kreuze an den Wänden von öffentlichen Einrichtungen als völlig normal, traditionell begründet und religiös fast neutral angesehen werden, ein I;Iigab auf dem Kopf einer Lehrerin allerdings nicht. Ein nach wie vor aktuelles Thema.

Ebenfalls brandaktuell sind bioethische Fragestellungen. Dazu gehören nicht nur das mittlerweile klassische Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs, sondern auch Fragen zu Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Samen- bzw. Eizellenspende und Leihmutterschaft Als Übung wurden die Teilnehmenden am Nachmittag zu einem Rollenspiel aufgefordert. Mit den generalisierten Positionen verschiedener Gruppierungen (katholische Kirche, evangelische Kirche, muslimische Gemeinde, LGBTIQ*-Community sowie Firmenvertretende) ausgestattet, sollten sie sich in deren Rollen versetzen und für bzw. gegen eine Klinik argumentieren, die die genannten Leistungen anbietet. Das Rollenspiel im Rahmen einer fiktiven Stadtratssitzung wurde sehr kreativ und erfrischend frei von Stereotypisierungen umgesetzt und brachte wichtige Lektionen in Rhetorik mit sich.

Zwei verschiedene Themen brachte Prof. Dr. Armina Omerika am Donnerstagabend und Freitagvormittag ein. Zunächst erklärte sie die Religionsgeschichte Bosniens, ein blinder Fleck in westeuropäischer Bildung (nur zwei Kursteilnehmende waren mit der Region vertraut), danach die ebenso komplizierte Beziehungsgeschichte zwischen Islam und Christentum in Europa, meist medial polemisiert zu „Islam und Europa“. Bei der Diskussion im Plenum kristallisierte sich heraus: Sowohl bei der Balkanregion als auch bei muslimisch geprügten Ländern liegt eine Tendenz zum „Othering“ vor. Die jeweiligen Gebiete und ihre komplexe Geschichte würden für unverständlich, in sich zerstritten und irrational erklärt, was als Vorwand diene, sich erst gar nicht damit zu befassen. Dieses Phänomen ziehe sich bis in die Geschichtsbücher von Gymnasialklassen.

Abschließend bleibt eine wichtige Frage, die sich durch die gesamte Woche zog: Wie gehen wir als Gesellschaft mit Intoleranz um? Diese Frage ist eine wichtige Aufgabe des Dialogs und eine Aufgabe, die alle Teilnehmenden in Zukunft weiter beschäftigen wird, nicht nur fachlich, sondern überall, sei es beim Blick in die Zeitung, auf Facebook oder im familiären Umfeld.

Von Henriette Jung, Humboldt- Universität zu Berlin

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